Ein junger Mann mit Downsyndrom sitzt in einer großen Werkshalle an einem Tisch und notiert etwas auf einem Zettel. Er trät eine neonfarbene Warnweste.

Zwischen Förderung und Ausgrenzung: Die Debatte um Behindertenwerkstätten

23. April 2024

Die Werkstätten für Menschen mit Behinderung, von denen es in Deutschland aktuell über 700 gibt, sollen Menschen mit besonderen Einschränkungen den Zugang zur Arbeitswelt gewährleisten und ihnen gleichzeitig ein geschütztes Umfeld bieten. Sie gehen nachweislich auf die “Werkstätten für behinderte Menschen der Von Bodelschwinghschen Anstalten Bethel” zurück, die Friedrich von Bodelschwingh Anfang des 20. Jahrhunderts in Bielefeld-Gadderbaum gründete. Während des Naziregimes titulierten die Herrschenden Menschen, für die derartige Einrichtungen vorgesehen waren, als “lebensunwertes Leben”, sprachen ihnen somit das Menschenrecht auf Leben ab und planten die Vernichtung dieser Menschengruppe in Konzentrationslagern. Erst nach 1945 wurden die Bemühungen um die Werkstätten wieder aufgenommen. 

Auch wenn seitdem viel passiert ist, was die Teilhabe körperlich, seelisch oder geistig eingeschränkter Menschen erleichtern sollte – wie etwa der Erlass des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG), mit dem der Gesetzgeber 1961 das Recht auf ein menschenwürdiges Leben verankert hat, oder die Werkstättenverordnung (WVO) von 1980 – sind die Einrichtungen immer wieder umstritten. Politiker*innen wie die EU-Abgeordnete für Sozial- und Inklusionspolitik (Bündnis 90/Grüne) Katrin Langensiepen (selbst körperlich eingeschränkt) sprechen sich für die Abschaffung der Werkstätten für behinderte Menschen aus. Beschäftigte der Werkstätten hingegen kämpfen mit ihrem Sprachrohr, den Werkstatträten Deutschland, und anderen sozialen Organisationen für deren Erhalt. 

Was spricht für beziehungsweise gegen die Werkstätten für Menschen mit Behinderung, sind sie überhaupt noch zeitgemäß oder kann man sie so umbauen, dass sie ihrem so ambitionierten wie unterstützenswerten Ziel gerecht werden?  

Teilhabe am Arbeitsleben 

Gemäß Definition im Neunten Buch Sozialgesetzbuch (Kapitel 12 § 219) ist „die Werkstatt für behinderte Menschen [...] eine Einrichtung zur Teilhabe behinderter Menschen am Arbeitsleben und zur Eingliederung in das Arbeitsleben.” Die Werkstätten stehen auf zwei Säulen: Sie bieten „eine angemessene berufliche Bildung und eine Beschäftigung zu einem [der] Leistung angemessenen Arbeitsentgelt aus dem Arbeitsergebnis” und ermöglichen es gleichzeitig, dass die Beschäftigten „ihre Leistungs- oder Erwerbsfähigkeit [...] erhalten, [...] entwickeln, [...] erhöhen oder [wiedergewinnen] und dabei ihre Persönlichkeit [weiterentwickeln].” 

Aufbau einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung 

Die Werkstätten gliedern sich in Eingangs- und Berufsbildungsbereich, Arbeitsbereich und Fördergruppen. Während der erste Bereich zur Vorbereitung auf den Arbeitsbereich dient, stehen die Fördergruppen der Personengruppe offen, die aufgrund ihrer Behinderung vom Einsatz im Arbeitsbereich der Werkstatt ausgeschlossen ist. Im Förderbereich gibt es jedoch arbeitsähnliche Beschäftigungsmöglichkeiten sowie Kreativ-, Bewegungs- und Wahrnehmungsübungen. Im Arbeitsbereich, dem Herzen der Einrichtung, leisten die Beschäftigten wirtschaftlich relevante Tätigkeiten, häufig in den Bereichen Wäschereibetrieb, der Holzverarbeitung, der Verpackungsindustrie oder dem Garten- und Landschaftsbau. 

Ausgrenzung und Ausbeutung?

Es liegt auf der Hand, dass diese simplen Tätigkeiten keine große Vielfalt und nur wenig individuelle Entwicklungsmöglichkeiten bieten. Dementsprechend werden die Beschäftigten auch nur sehr spärlich entlohnt. Die etwa 270.000 Personen, die im Arbeitsbereich in einer Werkstätte für behinderte Menschen in der Bundesrepublik angestellt sind, erhalten dafür ein Entgelt, das weit unter dem gesetzlichen Mindestlohn liegt. 

Dieses „Taschengeld” setzt sich zusammen aus einem Grundbetrag und einem leistungsangemessenen Steigerungsbetrag. Dieser Steigerungsbetrag ist abhängig von der individuellen Arbeitsleistung der behinderten Menschen, das heißt: Arbeitsmenge und Arbeitsgüte. Außerdem erhalten die Werkstätten für behinderte Menschen von dem zuständigen Rehabilitationsträger ein Arbeitsförderungsgeld, das den im Arbeitsbereich beschäftigten behinderten Menschen ausgezahlt wird. Dieses Arbeitsförderungsgeld beträgt monatlich 52 Euro für jeden im Arbeitsbereich beschäftigten behinderten Menschen. Insgesamt darf das gesamte monatliche Arbeitsentgelt 351 Euro jedoch nicht übersteigen. Die meisten Beschäftigten haben am Ende des Monats mit durchschnittlich 226 Euro sogar noch weitaus weniger auf ihrem Konto – dieser Betrag, den die FAZ basierend auf Daten von Statista im November 2023 ermittelt hat, entspricht einem Stundenlohn von 1,30 Euro. Das bedeutet selbstverständlich, dass die Menschen, die in den Werkstätten beschäftigt sind, zusätzlich auf staatliche Leistungen angewiesen sind. 

Dennoch erachten nur zwei Drittel der Beschäftigten ihr Gehalt als zu gering. Ein Drittel ist also einverstanden mit der Entgeltsituation. Und weiter zeigt die Statistik, dass gut 36 Prozent der Beschäftigten nicht den Wunsch nach einer Anstellung auf dem Arbeitsmarkt verspüren. Der Vorwurf der Kritiker*innen, die Einrichtungen würden Menschen mit Behinderungen ohne deren Willen von der Integration in den regulären Arbeitsmarkt fernhalten, kann also leicht entkräftet werden. 

Beschäftigung und Begegnung? 

Was hält die Beschäftigten nun in den Werkstätten und wieso setzen sie sich so stark für den Erhalt „ihrer” Einrichtungen ein? 

Für viele Beschäftigte steht das Gehalt nicht an erster Stelle. Für die Menschen in den Werkstätten sind diese ein Ort der Begegnung mit anderen Menschen, an dem sie ihre sozialen Kontakte pflegen können. Nicht arbeiten zu können und keine Aufgabe zu haben würde zwangsweise nicht nur zu Langeweile, sondern auch zu Vereinsamung führen. Mit ihrer Kampagne "Mehr als ein Job!" macht die Bundesarbeitsgemeinschaft Werkstätten für behinderte Menschen e.V. auf diese Tatsache aufmerksam. 

Außerdem handelt es sich in den Arbeitsbereichen nicht um sinnlose Tätigkeiten. Die Arbeiten, die die Menschen mit Behinderung dort erledigen, sind wertschöpfend und tragen – wenn auch in geringem Umfang – zum Bruttosozialprodukt bei, denn die Auftraggeber sind teilweise große Unternehmen, etwa aus der Automobilindustrie. Hier ihren Beitrag leisten zu können, erfüllt viele Beschäftigte mit Stolz. 

Gleichzeitig darf man auch nicht vergessen, dass es sich hier um Einrichtungen der beruflichen Rehabilitation handelt. Die Beschäftigten sind gemäß § 221 SGB IX keine Arbeitnehmer*innen, sondern stehen in einem arbeitnehmerähnlichen Rechtsverhältnis. Das heißt, sie müssen nicht die Pflichten erfüllen, die Arbeitnehmer*innen laut Arbeitsvertrag zu erfüllen haben. Die Werkstätten stellen für Menschen mit Behinderung einen geschützten Raum dar, der ihnen Orientierung und Unterstützung bieten soll. Vor dem rauen Wind der Wirtschaft sollten die faktisch unkündbaren Beschäftigten in ihren Einrichtungen geschützt sein. 

Nicht ideal, aber... 

Die aktuelle Situation der Werkstätten für behinderte Menschen ist nicht ideal. Aber da nach wie vor nicht alle Unternehmen auf dem ersten Arbeitsmarkt inklusiv und barrierefrei sind, bieten die Werkstätten Menschen mit Behinderungen eine gute – ja was nun: Alternative oder Ergänzung? 

Es ist die Rolle der Politik, dass die Angebote der Werkstätten nicht zu einer dauerhaften Ausgrenzung vom regulären Arbeitsmarkt führen. In erster Linie sollte die gleichberechtigte Inklusion behinderter Menschen in die Gesellschaft vorangetrieben werden. Dazu müssen auch die Arbeitgeber auf dem ersten Arbeitsmarkt in die Pflicht genommen werden. Denn der Anteil der Arbeitgeber, die Pflichtarbeitsplätze besetzen, beträgt weniger als 40 Prozent. 

Und nicht zuletzt muss das Entgeltsystem der Werkstätten dringend grundsätzlich überdacht werden. Der Werkstättenrat Deutschland spricht sich gegen den Mindestlohn, aber für einen Basislohn aus. Zumindest eine Orientierung am Mindestlohn sollte das Ziel sein, denn die behinderte Menschen leisten in ihrem Rahmen genauso wie Menschen ohne Einschränkungen einen Beitrag zum deutschen Arbeitsmarkt.

Quelle Beitragsbild: Halfpoint/Shutterstock

 

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